sunset1aklein.jpgsunset1klein.jpgsunset2aklein.jpgsunset2klein.jpgsunset3aklein.jpgsunset3klein.jpg

Am 18. September wählt Berlin sein neues Landesparlament und die zwölf Bezirksverordnetenversammlungen (BVV). Wer tritt mit welchen Programmen und Personen an, welche Schwerpunkte setzen Parteien und welche ihre Wähler? In einer fünfteiligen Serie beschäftigen wir uns mit den Aussichten für Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf. Heute Teil 1: Alternative für Deutschland (AfD).


Befürchtungen über „Durchmarsch“
Hinter vorgehaltener Hand wird von Vertretern der bereits im Abgeordnetenhaus und in den BVV sitzenden Parteien schon mal geäußert, dass man einen Einzug der 2013 gegründeten Alternative für Deutschland in veritabler Größe auch in die Berliner Parlamente befürchtet. Sogar Stadtratsposten könnten für die Rechtspopulisten denkbar sein, insbesondere im Ostteil Berlins. Zwar sind die Kandidaten und Mitglieder der AfD in der Hauptstadt eher wenig bekannt – viele Thesen der einst vor allem als Euroskeptiker angetretenen, konservativ-nationalistischen Partei sind es umso mehr durch eine offensive Verbreitung in den sozialen Netzwerken. Dort gibt es auch immer wieder großen Beifall von Sympathisanten dafür. Islam-Kritik, Forderungen wie die nach Begrenzung von Flüchtlingszahlen und der schnelleren Abschiebung von abgelehnten oder straffällig gewordenen Asylbewerbern, der Ruf nach mehr Sicherheit und die Absage an Gender Mainstreaming – das hat bereits im Frühjahr 2016 bei Landtagswahlen verfangen. In Rheinland-Pfalz (12,6 Prozent), Baden-Württemberg (15,1 Prozent) und vor allem in Sachsen-Anhalt (24,2 Prozent) fuhr die AfD vorher nicht für möglich gehaltene Ergebnisse ein. Trotzdem bleibt die Auseinandersetzung mit ihr in Berlin merkwürdig blass, kaum, dass offensiv mit AfD-Vertretern diskutiert wird. Viele Parteien und Kandidaten ziehen ihren Wahlkampf wie eh und je durch.

20 plus X?
Die AfD, als junge Partei noch recht heterogen, ist die unbekannte Größe. Wird es ihr am 18. September auch in der deutschen Hauptstadt gelingen, Menschen, die sich in den letzten Jahren vom Politikbetrieb abgewandt haben, weil sie sich von diesem nicht mehr vertreten sehen, zu ihren Gunsten zu mobilisieren? 2011 stimmten in Berlin nur 60,2 Prozent der Wahlberechtigten ab, in Marzahn-Hellersdorf 51,0 Prozent und in Lichtenberg 53,5 Prozent (Zweitstimmen Abgeordnetenhaus). Die niedrigste Wahlbeteiligung der Hauptstadt lag im Wahlkreis 1 Marzahn-Hellersdorf mit 39,2 Prozent.

AfD-Wahlkampfmanager Karsten Woldeit (41), ehemaliger Berufssoldat, glaubt, dass diesmal mehr Menschen zur Wahl gehen werden. Der frühere CDU-Mann, der von 2001 bis 2010 für die Christdemokraten in der BVV Reinickendorf saß, lebt im Lichtenberger Weitlingkiez. Er ist nicht nur AfD-Spitzenkandidat für die BVV Lichtenberg und Direktkandidat im Wahlkreis 5, sondern hat auch einen sicheren zweiten Platz auf der Landesliste für das Abgeordnetenhaus. Sofern die AfD die 5-Prozent-Hürde nimmt, wovon wohl auszugehen ist: Umfragen sehen die Partei in Berlin zwischen 8 Prozent (Forsa, 31. Juli) und 14 Prozent (Insa, 11. August) bzw. 15 Prozent (Infratest dimap, 17. August).

Woldeit sagt selbstbewusst, dass die AfD in den drei Ost-Bezirken Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick ein Ergebnis um 20 Prozent der Stimmen anstrebe (berlinweit 15 Prozent). Noch mehr erhofft sich der AfD-Kreisverband Marzahn-Hellersdorf um seine Vorsitzende Jeanette Auricht. Die 46-Jährige kaufmännische Angestellte, wie Woldeit Mitglied des AfD-Landesvorstandes, ist Spitzenkandidatin für den Bezirk, Direktkandidatin im Wahlkreis 5 in Marzahn-Hellersdorf und auf Platz 12 der Berliner Landesliste. „20 plus X“ sei das Wahlziel für Marzahn-Hellersdorf. Auricht verweist auf das Ergebnis der Europawahlen 2014: Dort verzeichnete die AfD in Marzahn-Hellersdorf mit 11,7 Prozent ihr höchstes Ergebnis in der Hauptstadt. In Lichtenberg kam sie auf 9,3 Prozent (berlinweit 7,9 Prozent).

Innere Sicherheit und angelsächsisches Einwanderungsmodell
Der Berliner Landesverband gilt zwar als einer der moderateren innerhalb der AfD. Dennoch setzt er unter seinem Spitzenkandidaten, dem Landesvorsitzenden Georg Pazderski, einem ehemaligen hochrangigen Bundeswehroffizier, auf einen stramm rechtskonservativen Kurs. Schwerpunkte des Berliner Wahlprogramms sind die Themen innere Sicherheit (u.a. 2.000 Polizisten mehr für die Hauptstadt), die Asyl- und Migrationsproblematik (Zuzug begrenzen und ein gesteuertes Einwanderungsmodell nach angelsächsischem Muster), die Familienpolitik (Förderung von Ehe und Familie, auch steuerlich), Hartz IV (Heranziehen von Empfängern von Unterstützung zu gemeinnütziger Arbeit). In der Wohnungspolitik wird u.a. die Förderung von Genossenschaften, auch durch den Verkauf von landeseigenen Wohnungen, und eine erleichterte Wohneigentumsbildung gefordert. Die Mietpreisbremse wird abgelehnt, die GEZ-Gebühren sollen abgeschafft werden.

Alltagsthemen im Bezirk
Die Bezirkswahlprogramme der AfD sind bisher noch nicht überall öffentlich bekannt. Lichtenberg hatte bis zum 19. August noch kein eigenes online, die Printvariante geht laut Karsten Woldeit erst am 22. August in Druck. Schwerpunktthemen darin würden u.a. der Tierpark sein, die Situation in den Bürgerämtern und die Verkehrsinfrastruktur. Das Bezirkswahlprogramm von Marzahn-Hellersdorf steht bereits seit März im Netz. Darin geht es um Alltagsprobleme wie den Forderungen nach einem Kombi- oder Freibad im Bezirk, der Wiederinbetriebnahme der Jugendverkehrsschule Borkheider Straße in Marzahn und der dichteren Zugfolge von Tram, U- und S-Bahnen – kommunalpolitische Aussagen, die auch andere Parteien unterschreiben könnten. Beim Thema Migration gibt man sich auf den ersten Blick moderat: Es wird sowohl verlangt, anerkannten Flüchtlingen „die Werte unserer Gesellschaft zu vermitteln und deren Einhaltung einzufordern“ als auch für Asylbewerber menschenwürdige Wohn- und Lebensbedingungen zu schaffen. Entgegengetreten werden soll der Bildung von Wohnghettos, die Standortplanung für die vorgesehenen modularen Unterkünfte soll deshalb überarbeitet werden, heißt es.

Denkzettelwahl befürchtet
Jedoch wird es wohl am 18. September auch in den Bezirken den Wählern weniger um solche kommunalpolitischen Fragen gehen, wie Erfahrungen aus vorausgegangenen Wahlen zeigen. Von einer Denkzettelwahl wird gesprochen, Themen der Bundes- und Landespolitik dürften bestimmend sein. Und dort schlagen bekanntlich Parteivertreter wie die Vorsitzende Frauke Petry, die Berliner Landesvorsitzende, die AfD-Europaabgeordnete Beatrice von Storch, und der Thüringer Björn Höcke härtere und schrillere Töne an.

Wahlkampfmanager Woldeit bezeichnet die AfD als „Mitte-Rechts-Partei in der demokratischen Gesellschaft“. Sie sei der rechte Part, nachdem die CDU immer weiter nach links gerückt sei: „Wir sind für das politische Spektrum wichtig.“ Dass in Lichtenberg mindestens zwei AfD-Kandidaten, Kay Nerstheimer (Direktkandidat Wahlkreis 1) und Heribert Eisenhardt (BVV-Liste), in Medienberichten wegen einschlägiger Aktivitäten als Rechtsextremen nahe stehend bezeichnet wurden, ficht ihn nicht an: Gegen Eisenhardt, dem Auftritte bei den Bärgida-Demonstrationen und die Beteiligung an einem neonazistischen Aufmarsch in Marzahn-Hellersdorf vorgeworfen wurden, laufe ein Parteiausschlussverfahren. Vorwürfe gegen Nerstheimer (er soll sich 2012 im Internet als Berliner Division-Leader einer German Defence League zu erkennen gegeben haben und deren Aufbau zu einer Miliz angekündigt haben) würden geprüft. „Wir haben in unserem Grundsatzprogramm eine klare Trennung zum Extremismus jeglicher Coleur“, beteuert Woldeit.

In der gesellschaftlichen Mitte
Auf diese Aussage legt auch Jeannette Auricht großen Wert. Im Gegensatz zu ihrem Parteikollegen sieht sie die AfD jedoch nicht rechts, sondern in der gesellschaftlichen Mitte verortet. Sowohl die AfD-Kandidaten als auch ihre Mitglieder (in Lichtenberg 80, in Marzahn 60, Gesamtberlin mehr als 1.000) haben meist eine gute Ausbildung, bürgerliche Berufe und sind vielfach auch rhetorisch gut geschult. Kein Vergleich zu vielen Vertretern rechtsextremistischer Parteien wie der NPD oder pro Deutschland, von denen sich die AfD in Berlin offiziell abgrenzt. Auch deshalb muss damit gerechnet werden, dass Stimmen für die AfD von jenen Denkzettel-Wählern kommen, denen NPD und Co zu unappetitlich sind und für die die Linke keine Protestpartei mehr darstellt. Woldeit prognostiziert, dass die AfD im Berliner Osten außer bisherigen Nichtwählern insbesondere frühere Wähler der Linken und der SPD anziehen wird, im Westteil jene, die bislang CDU gewählt haben, aber von deren Kurs enttäuscht seien. Auricht glaubt, dass alle bisher in den Parlamenten vertretenen Parteien Federn lassen müssen: „Auch die CDU in Marzahn-Hellersdorf.“

Leitfaden der MBR herausgegeben
Bisher haben weder Linke oder SPD, noch CDU, Bündnisgrüne oder die Piraten eine wirksame Antwort für den Umgang mit der AfD und deren potenziellen Wählern gefunden. Sehr selten diskutiert man miteinander, zumindest öffentlich. AfD-Vertreter nehmen seit 2015 in Marzahn-Hellersdorf regelmäßig als Gäste an den öffentlichen Sitzungen der BVV und ihrer Ausschüsse teil und sind wie der Direktkandidat für den Wahlkreis 1, Gunnar Norbert Lindemann, auch in Gremien wie Elternvertretungen aktiv.

Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) hat jetzt einen 20-seitigen Leitfaden zu Wahlantritten rechter Parteien herausgegeben, der sich auch mit der Alternative für Deutschland befasst. „Auf ein Projekt wie die AfD hat die extrem rechte Stammkultur seit vielen Jahren gewartet beziehungsweise an seiner Realisierbarkeit gearbeitet“, heißt es darin unter anderem. Die Broschüre analysiert das Wahlprogramm und die Personalien – und fordert eine offensive und kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten der AfD, die auch die Öffentlichkeit erreicht.

http://www.lichtenbergmarzahnplus.de/der-x-faktor/